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Abstract
Die Risikoanalyse der europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache Frontex ist eine wichtige Praxis, die das Akteurshandeln im Kontext des europäischen Grenzregimes beeinflusst. In der vorliegenden Arbeit wird gezeigt, dass diese Risikoanalysen auf verschiedene Regierungsweisen von Migration zurückgreifen. Neben der Konstruktion von Migration als Sicherheitsrisiko zeigt sich eine Hierarchisierung von Migrant*innen in „regulär“ und „irregulär“. Der politische Charakter dieser Setzung wird dabei über eine Neutralität suggerierende Managementrhetorik verschleiert. Zudem werden auch humanitäre Argumentationsmuster für die Restriktion von Migration genutzt. Diese drei Regierungsweisen sowie die Risikoanalyse selbst legitimieren so die restriktive Migrationspolitik im europäischen Grenzregime, die im Sinne eines weiten Gewaltverständnisses nicht nur unmittelbar physische, also direkte Gewalt, sondern auch strukturelle Gewalt in Form von Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten zur Folge hat. Somit sind die Regierungsweisen sowie die Risikoanalyse selbst in ihrer Funktion als Rechtfertigung und Begründung von Gewalt, als kulturell beziehungsweise epistemisch gewaltvoll anzusehen.
1. Einleitung
Das europäische Grenzregime ist geprägt vom Zusammenspiel einer Vielzahl von Institutionen, Akteur*innen1 sowie Praktiken und befindet sich als ein Produkt fortwährender Aushandlungsprozesse und Konflikte ständig im Wandel (Kasparek 2010: 121; Walters 2011: 138). Der Wirkungs- und Einflussbereich erstreckt sich dabei weit über die eigentliche Grenze2 hinaus. So sind beispielsweise Kooperationen mit „sicheren Drittstaaten“ zur Externalisierung von Migration oder restriktive Asylpolitiken, die Migrant*innen3 nur beschränkte Rechte einräumen ebenfalls als Teil des Grenzregimes und der Migrationskontrolle zu verstehen (Kasparek 2010: 128). Zentrales Ziel des europäischen Grenzregimes ist die Kontrolle von Migration, indem Individuen bestimmte Verhaltensweisen aufgezwungen und Machtbeziehungen erzeugt werden (Kasparek 2010: 121). Frontex, die europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache, ist ein wesentlicher Bestandteil dieses Grenzregimes mit einer Vielzahl von Aufgaben und stetig wachsenden Kompetenzen und Ressourcen (Perkowski 2018: 460). Während Frontex insbesondere im Zusammenhang mit illegalen „Pushbacks“ gegen Migrant*innen des Öfteren Gegenstand der öffentlichen Aufmerksamkeit ist4, bleibt ein anderer Aspekt der Tätigkeiten der Agentur fast gänzlich unbeleuchtet: die Risikoanalyse. Diese Analysen prognostizieren die Situation an der europäischen Außengrenze im Allgemeinen, sowie für spezifische Grenzgebiete und sind nach Angaben von Frontex die Grundlage aller weiteren eigenen Tätigkeiten5. Schon die Benennung der Analyse deutet darauf hin, dass Migration und Migrant*innen als Gefahr und Sicherheitsthema konstruiert werden, was dementsprechend restriktive Kontrollpolitiken legitimiert.
Mittels einer Inhaltsanalyse dieser Risikoanalysen sollen die ihr zugrundeliegenden Herrschafts- und Kontrolllogiken sichtbar gemacht werden, die für das Handeln von Frontex und für die Regierung von Migration im europäische Grenzregime maßgeblich sind. Darauf aufbauend soll untersucht werden, wie diese Regierungsweisen sowie die Risikoanalyse selbst als Akt der Wissensproduktion in verschiedene Gewaltverhältnisse verstrickt sind. Dazu gehört beispielsweise, wie Gewalt und Ungleichheiten legitimiert, aber auch verschleiert und naturalisiert werden oder wie Wissen produziert und reproduziert wird, das Hierarchisierungen und Kategorisierungen beinhaltet und somit selbst gewaltvoll ist. Daraus ergibt sich die Leitfrage dieser Arbeit: Welche Logiken von Herrschaft und Kontrolle liegen den Risikoanalysen von Frontex zugrunde und mit welchen Gewaltverhältnissen sind sie verknüpft?
Grundlegend für die Inhaltsanalyse sind drei, sich teilweise überschneidende und ergänzende Perspektiven auf Migrationskontrolle und ihre Legitimierung, die als Analyseschema für die Untersuchung dienen sollen. Die Regierungsweise der Versicherheitlichung konstruiert Migration als Gefahr, während das Migrationsmanagement zwischen ökonomisch erwünschter und unerwünschter Migration unterscheidet und den politischen Charakter solcher Entscheidungen mittels einer Managementrhetorik zu verschleiern versucht. Die Humanitarisierung wiederum legitimiert Migrationskontrolle vor allem über den vermeintlichen Schutz der Migrant*innen selbst. Alle drei Regierungsweisen haben damit das Potenzial restriktive Migrationspolitiken sowie im weiteren Sinne ungleiche Machtverhältnisse zu legitimieren. Zur anschließenden Analyse der verschiedenen, mit den vorgestellten Regierungsweisen sowie der Risikoanalyse selbst verknüpften, miteinander verwobenen und sich ergänzenden Gewaltformen wird ein weites Verständnis von Gewalt als theoretischer Ausgangspunkt gewählt. Dieses ermöglicht so auch „jene politischen, sozio-ökonomischen und kulturellen Bedingungen, die mit dem individuellen Erleiden von Gewalt einhergehen“ (Chojnacki 2019: 5) zu erfassen. Ausgangspunkt ist dabei das Gewaltdreieck nach Johann Galtung (Galtung 1969; 1998), das neben direkter Gewalt auch strukturelle Gewalt im Sinne sozialer Ungerechtigkeiten und kulturelle Gewalt als in der Kultur verankerte Legitimationsformen für Gewalt umfasst. Da die von Frontex durchgeführten Risikoanalysen in dieser Arbeit vor allem in ihrer Eigenschaft als Wissensproduktion (bzw. produziertes Wissen) betrachtet werden, soll Galtungs Perspektive auf Gewalt noch um Überlegungen zu epistemischer Gewalt, also der spezifisch im Wissen verankerten Gewalt ergänzt werden. Zur Untersuchung der Risikoanalyse wird auf die Qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring (Mayring 2010; Mayring/Fenzl 2019) zurückgegriffen, da diese die interpretative Anwendung der oben beschriebenen Kategorien auf Frontex Risikoanalysen erlaubt.
Die Entscheidung für ein weites Gewaltverständnis
„wird dabei meist von der normativen, herrschafts- und gesellschaftskritischen Absicht sowie dem friedensethischen Ziel begleitet, den Gewaltbegriff für eine systematische Kritik und Skandalisierung asymmetrischer und diskriminierender gesellschaftlicher Verhältnisse heranzuziehen (Endreß/Rapp 2017)“ (Chojnacki 2019: 5).
Dementsprechend ist es meine Grundabsicht das dominante Paradigma der Konstruktion von Migration als Kontrolle benötigendes Problem und die damit einhergehenden gewaltvollen Praktiken, die sich regelmäßig an den europäischen Außengrenzen zeigen6, kritisch zu hinterfragen. Die global ungleiche Verteilung von Macht und Ressourcen und deren Prägekraft beeinflussen die Lebenschancen von Individuen zentral, während sie selbst keinen Einfluss auf den Ort ihrer Geburt haben (Celikates 2016: 230-231). Gleichzeitig wird die Überquerung von kontingenten und oft aus historischen Ungerechtigkeiten entstandenen Grenzen in der Hoffnung auf ein besseres Leben nicht nur illegalisiert, sondern auch zu einem lebensgefährlichen Unterfangen (Celikates 2016: 231). Da Wissensbestände einen großen Einfluss auf die Legitimation und Stabilisierung von Herrschafts- und Gewaltverhältnissen haben, gilt es auch den eigenen Forschungsprozess kritisch zu begleiten und Gewaltfreiheit als Anspruch und Utopie der Wissenschaft zu verstehen, nicht aber als ihre genuine Eigenschaft (Brunner 2015: 48-50).
Im folgenden Theoriekapitel werden zunächst die Logiken der zur Legitimation der Kontrolle von Migration genutzten Regierungsweisen der Versicherheitlichung, des Migrationsmanagements und der Humanitarisierung vorgestellt. Das anschließend präsentierte weite Gewaltverständnis soll ermöglichen, die komplexen Gewaltverhältnisse zu erkennen, in die diese Regierungsweisen und die Risikoanalyse selbst verstrickt sind. Im 3. Kapitel wird das methodische Vorgehen im Sinne einer qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring vorgestellt, das die zuvor erarbeiteten theoretischen Konzepte als analytische Kategorien nutzbar macht. Auf dieser Grundlage erfolgt dann in Kapitel 4 die Untersuchung der Risikoanalysen von Frontex auf entsprechende Herrschafts- und Kontrolllogiken und die damit verbundenen Gewaltverhältnisse.
2. Theoretische Grundlage
Im Nachfolgenden sollen zunächst die drei Regierungsweisen der Versicherheitlichung von Migration, des Migrationsmanagements sowie der Humanitarisierung vorgestellt werden. Dabei sind diese nicht als trennscharf abgrenzbare Kategorien, sondern vielmehr in einem Kontext gegenseitiger Ergänzung und Beeinflussung zu denken (vgl. Perkowski 2018). Allen drei Regierungsweisen ist es gemein, dass es sich bei ihnen um umfassende, komplexe und wirkmächtige Konzepte handelt, die das europäische Grenzregime entscheidend mitprägen (vgl. Huysmans 2000; Geiger/Pécoud 2010; Walters 2011). Das Ziel der folgenden Darstellung ist dem Umfang der Arbeit entsprechend nicht Vollständigkeit, sondern vielmehr die präzise Darstellung der zentralen Logiken und Funktionen der entsprechenden Regierungsweisen. So sollen diese für die geplante Untersuchung der Inhaltsanalyse von Frontex als analytische Kategorien fruchtbar gemacht werden. Um deren Auswirkungen auf Migration und ihre Kontrolle analytisch besser zu fassen, soll dann im Anschluss das dieser Arbeit zugrundeliegende weite Verständnis von Gewalt unter Bezug auf Johann Galtungs Gewaltdreieck und das Konzept der epistemischen Gewalt erläutert werden.
2.1 Die Regierungsweisen der Versicherheitlichung, des Migrationsmanagements und der Humanitarisierung
Versicherheitlichung:
Das Grundprinzip der Versicherheitlichung von Migration basiert auf der Konstruktion von Migration als Sicherheitsthema, indem deren vermeintlich destabilisierende Effekte betont werden (Huysmans 2000:751). Neben der diskursiven Verknüpfung von Migration und Asyl mit „klassischen“ Sicherheitsthemen wie Terrorismus oder Kriminalität (Bigo 2002:64) ist auch die Betonung der Gefahr für die kulturelle Identität oder den Wohlfahrtsstaat paradigmatisch für ihre Versicherheitlichung (Huysmans 2000:752). So sind beispielsweise Grenzsicherheit und grenzübergreifendes Verbrechen die Hauptmandate von Frontex, während der Schwerpunkt der Agenda jedoch eindeutig auf der als „irregulär“ eingeordneten Migration liegt (Kasparek 2010: 136). Diese Nutzung von Migration als „Meta-Thema“ (Faist 1994: 52) mit heterogenen und gleichermaßen diffusen Bedrohungsaspekten erzeugt ein konstantes Gefühl der Unsicherheit (Bigo 2002: 78), das entsprechende Kontrollmaßnahmen als erforderlich und legitim erscheinen lässt (Huysmans 2000: 757).
Die Regierungsweise der Versicherheitlichung und ihre andauernde Hervorbringung und Reproduktion von Bedrohungsszenarien, die oft auf Gefahr suggerierende Metaphern und Symboliken wie „Flut“ oder „Welle“ zurückgreifen (Faist 1994: 61-62), wird dabei entscheidend vom wirkmächtigen Konzept des souveränen Nationalstaates (Bigo 2002: 67-68) und einer entsprechenden Unterscheidung in zugehörig und nicht-zugehörig geprägt. So werden Migrant*innen im Kontext vermeintlicher kultureller Homogenität als „Andere“ und außerhalb der Gesellschaft stehend kategorisiert (Huysmans 2000: 762-763). Analog erfolgt diese Abgrenzung auch in der sozio-ökonomischen Sphäre, sodass Migrant*innen zunehmend nicht nur als Rival*innen, etwa um Arbeitsplätze oder Sozialleistungen, sondern auch als illegitime Empfänger*innen sozio-ökonomischer Rechte dargestellt werden (Huysmans 2000: 767). Gleichzeitig werden entsprechende Rechte als „Pull-Faktoren“ gerahmt, was die Vorenthaltung derselben zum Zweck der Kontrolle und Verringerung von Migration legitimiert. (Huysmans 2000:767). Zudem ist es laut Bigo der Hauptmechanismus der Versicherheitlichung
„to transform structural difficulties and transformations into elements permitting specific groups to be blamed, even before they have done anything, simply by categorizing them, anticipating profiles of risk from previous trends, and projecting them by generalization upon the potential behavior of each individual pertaining to the risk category” (Bigo 2002: 81).
Die Versicherheitlichung dient jedoch nicht nur der einfachen Erklärung komplexer Probleme und der Legitimation von Ausschlüssen und Ungleichheiten, sowie restriktiven Migrationspolitiken insgesamt, sondern kann auch an persönliche Interessen geknüpft sein. So stellt die Konstruktion von Bedrohungen für „security professionals“ (wie zum Beispiel Frontex) eine Gelegenheit dar wachsende Budgets und Kompetenzen zu fordern (Bigo 2002: 64), während Politiker*innen das erzeugte Unbehagen dazu nutzen können die eigene Rolle als Beschützer*innen zu affirmieren oder eigene Fehler zu kaschieren (Bigo 2002: 65).
Migrationsmanagement:
Grundlegend für die Regierungsweise des Migrationsmanagements ist „die Einsicht, dass Migration weder verhindert, gestoppt noch totgeschwiegen werden kann“ (Meyer/Purtschert 2008: 151). Stattdessen hat das Migrationsmanagement erklärtermaßen die bestmögliche, für alle Beteiligten vorteilhafte, Regulierung von Migration als Ziel (Geiger/Pécoud 2010: 2). In der Praxis ist das gleichbedeutend mit der Offenheit gegenüber der ökonomisch vorteilhaften, erwünschten Migration bei gleichzeitiger Restriktion der übrigen, unerwünschten Migration (Geiger/Pécoud 2010: 3). Diese einem ökonomischen Imperativ folgende Steuerungslogik sorgt nun dafür, dass
„[d]ie Aufnahme oder Ablehnung von MigrantInnen […] so nicht in erster Linie als politische Entscheidung [erscheint], sondern als bestmögliche Regulierung, welche es erlaubt, die ökonomischen Prozesse in ihrer Natürlichkeit zu belassen“ (Meyer/Purtschert 2008: 156).
Die daraus resultierende Unterscheidung zwischen regulärer und irregulärer Migration wird über ihre vermeintliche Natürlichkeit rationalisiert, gleichzeitig bedeutet sie jedoch für all diejenigen, die nicht den ökonomischen Interessen entsprechen die Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit (Geiger/Pécoud 2010: 16) sowie ihre Irregularisierung und Illegalisierung (Meyer/Purtschert 2008: 160). Diese als irregulär kategorisierte Migration legitimiert dann wiederrum staatliche Kontrolle und Gewalt (Meyer/Purtschert 2008: 158-159), die auch als Akt der Abgrenzung der zu schützenden Bevölkerung von der bedrohlichen Nicht-Bevölkerung zu verstehen ist (Meyer/Purtschert 2008: 163-165).
Wichtige Akteure des Migrationsmanagements sind IGOs (Intergovernmental Organizations) wie das IOM, das UNHCR oder Frontex, die zur Regulierung von Migration nötiges Wissen produzieren und bereitstellen, während sie sich auf ihre vermeintlich „wissenschaftliche“ oder „technische“ Expertise berufen (Geiger/Pécoud 2010: 5). Das bereitgestellte Wissen wird als faktenbasiert, neutral oder objektiv präsentiert und verschleiert dabei die selektive und spezifische Problemkonstruktion von Migration als Frage der ökonomischen Optimierung sowie die unterschiedlichen Interessen und ungleichen Machtverteilungen, die für die Akteurskonstellation im Rahmen des europäischen Grenzregimes kennzeichnend sind (Geiger/Pécoud 2010: 9-11). Diese Entpolitisierung eigentlich höchst politischer Entscheidungen durch den Verweis auf eine vorgeblich neutrale, optimale Problemlösung erschwert nicht nur das Hinterfragen der Praktiken des Migrationsmanagements (Geiger/Pécoud 2010: 11), sondern legitimiert auch restriktive Migrationspolitiken, die in Gewalt und Ungleichheit resultieren, mit dem Verweis auf eine scheinbar neutrale Beratung (Geiger/Pécoud 2010: 12). Darüber hinaus ermöglicht die Entpolitisierung Akteur*innen mit begrenzter oder keiner demokratischen Legitimation und mangelnder Transparenz die Einflussnahme auf Migrationspolitik (Geiger/Pécoud 2010: 12), während ihre eigentlichen Absichten und Ziele durch die Nutzung einer Managementrhetorik verschleiert werden (Geiger/Pécoud 2010: 6). So schildert beispielsweise Bernd Kasparek das Selbstverständnis von Frontex als Dienstleister im europäischen Grenzmanagement (Kasparek 2010: 119-120).
Der Begriff des Migrationsmanagement selbst fungiert dabei als „empty shell“, unter der eine Vielzahl von Praktiken zusammengefasst und ihnen eine gewisse Kohärenz verliehen werden kann (Geiger/Pécoud 2010: 3). Erst das Einnehmen der Perspektive der durch das Migrationsmanagement ausgeschlossenen Nicht-Bevölkerung erlaubt das Erkennen von Aspekten der Macht, Gewalt und Ungleichheit, die der Managementbegriff im Rekurs auf die vermeintliche Natürlichkeit dieser Regierungsweise zu verschleiern versucht (Meyer/Purtschert 2008: 166-170).
Humanitarisierung:
Nach William Walters ist die Grenze zunehmend auch ein Raum des humanitären Regierens geworden (Walters 2011: 138). Entscheidend für die Humanitarisierung ist, dass die Überquerung von Grenzen für Migrant*innen ein potenziell tödliches Unterfangen geworden ist (Walters 2011:138). Daher sollten humanitäre Argumentationen immer auch im Kontext bereits bestehender Kontrolle und Restriktion von Migration sowie der Schließung verhältnismäßig sicherer Migrationsrouten betrachtet werden, da dies die Verlagerung der Migrationsbewegungen auf neue, in der Regel unsicherere Routen zur Folge hat (Hess et al. 2017: 15). In dieser Konstellation werden Migrant*innen nun als die sich in Lebensgefahr begebenen Opfer skrupelloser Schlepper und Menschenhändler konstruiert. Somit wird der Kampf gegen den Menschenhandel und die Verhinderung der lebensgefährlichen Grenzüberquerung zu einer „der wesentlichen Rechtfertigungen für die Kontrolle und Verhinderung von Migration“ (Schmidt 2015: 6). Restriktive Kontrollpolitiken und deren Externalisierung werden mit dem vermeintlichen Schutz von Migrant*innen legitimiert, während die eigene (europäische) Verantwortung ausgelagert und verschleiert wird (Hess 2016: 4-5). So ist bei vermeintlich humanitären Praktiken wie der Seenotrettung (insbesondere durch Frontex) oder Aufnahmelagern stets mitzudenken, dass Migrant*innen unmittelbar der Kontrolllogik des europäischen Grenzregimes zugeführt werden (Walters 2011: 147-148; Perkowski 2018: 468), oder zur Kontrolle und Steuerung von Migration nötiges Wissen auch über humanitäre Praktiken generiert wird (Walters 2011: 150).
In dieser Logik sind Migrant*innen „keine politischen Subjekte bzw. Subjekte von Rechten mehr, sondern nur noch Empfänger_innen humanitärer Hilfe“ (Hess et al. 2017: 15). Um diese zu erhalten ist jedoch die Anpassung an das System des europäischen Grenzregimes nötig. Gleichzeitig wird eine entsprechende Hilfeleistung als aus moralischer Verpflichtung erfolgend kodiert und erfolgt oft eher selektiv entlang von Opferhierarchien und der Kategorisierung in geeignete und ungeeignete Hilfsempfänger*innen (Hess 2016: 4; Schmidt 2015: 6). Die Forderung nach und die Bereitstellung von Hilfeleistungen im Sinne einer nötigen humanitären Ausnahme reproduziert dabei die grundlegenden restriktiven Sicherheitsnormen und Praktiken (Perkowski 2018: 468), während „die Situation von ‚leidenden‘ Menschen als selbstevident wahrgenommen wird und sozialpolitische Kontexte ausgeblendet werden“ (Schmidt 2015:10). So sind auch Menschenrechte längst ein systematischer Referenzpunkt verschiedener Diskurse, beispielsweise des oben geschilderten Migrationsmanagements, geworden und tragen dazu bei die restriktiven Kontrollpraktiken zu legitimieren (Geiger/Pécoud 2010: 12; Perkowski 2018: 464). Der damit einhergehende Verlust des emanzipatorischen Sinngehaltes des Begriffs der Menschenrechte lässt sich anekdotisch auch in Schmidts Bemerkung beobachten, dass Migrant*innen eher „equal rights“ und damit das Ende von Ungerechtigkeiten einforderten (Schmidt 2015: 10).
Die Regierungsweise der Humanitarisierung ist mit anderen Regierungsweisen wie Versicherheitlichung und Migrationsmanagement verknüpft und schließt an diese an (vgl. Geiger/Pécoud 2010: 13-14; Bigo 2002: 79). Gleichzeitig ist die Frage danach, wer tatsächlich humanitär handelt diskursiv umkämpft (Walters 2011:157) und wird durch Interventionen von NGOs immer wieder herausgefordert, was der humanitären Grenze ihre Ambivalenz verleiht (Hess 2016: 5; Walters 2011: 150-155).
2.2 Weites Gewaltverständnis
Die Ambivalenz und semantische Uneindeutigkeit des deutschen Gewaltbegriffs, der sowohl manifeste Handlungen (vergleiche „violence“) als auch eine Strukturierungs- und Ordnungsfunktion (vergleiche „power“) umfasst (Bonacker/Imbusch 2010: 82), deutet bereits auf den Grundgedanken eines weiten Gewaltverständnisses7 hin. Dieses versteht Gewalt nicht nur als direkte, manifeste und meist intendierte Schädigung anderer Personen (Bonacker/Imbusch 2010: 86), sondern nimmt auch
„jene gesellschaftlichen Hierarchisierungen, asymmetrischen Machtpositionen und ungleichen Verteilungen von Ressourcen, die Formen sozialer Marginalisierung und Diskriminierung beinhalten, [die] zu unterschiedlichen Lebenschancen führen und so für menschliches Leid oder Tod verantwortlich sind“ (Chojnacki 2019: 3)
als Form von Gewalt in den Blick. Damit wird auch deutlich, dass es sich bei Gewalt nicht nur um eine soziale Praxis, sondern auch eine diskursiv hergestellte und somit auch umkämpfte Wirklichkeitskonstruktion handelt (Bonacker/Imbusch 2010: 96-97).
Das weite Gewaltverständnis geht zurück auf Johann Galtung, der Gewalt als „the cause of the difference between the potential and the actual“ (Galtung 1969: 168) definiert. Daraus ergibt sich in Abgrenzung zu direkter Gewalt die strukturelle Gewalt8 als neuer Gewalttypus. Strukturelle Gewalt zeigt sich nach Galtung in ungleichen Machtverhältnissen und daraus resultierenden ungleich verteilten Ressourcen und Lebenschancen und wird daher von ihm zuweilen auch als „social injustice“ bezeichnet (Galtung 1969: 170-171). Strukturelle Gewalt ist zudem gekennzeichnet durch die Abwesenheit eines/einer konkret zuordenbaren Täter*in (Galtung 1969: 170) und ihre vergleichsweise schwere Wahrnehmbarkeit:
„Im Vergleich zu direkter physischer Gewalt ist sie wenig sichtbar und wird kaum thematisiert und politisiert; als anonyme Kraft erscheint sie vielfach naturwüchsig, gleichwohl wird zur Legitimation der unter dem Begriff zu fassenden Verhältnisse ein erheblicher Aufwand getrieben. Das kann nicht verwundern, denn strukturelle Gewalt ist ein fester Bestandteil von Herrschaftsordnungen“ (Imbusch 2017: 42).
Der an diese Überlegung anschließende Begriff der kulturellen Gewalt komplettiert schließlich das „Gewaltdreieck“ nach Galtung (Galtung 1998: 348). Unter kultureller Gewalt versteht er „jene Aspekte der Kultur […], die dazu benutzt werden können, direkte oder strukturelle Gewalt zu rechtfertigen oder zu legitimieren“ (Galtung 1998: 341), beispielsweise über Religion, Ideologie, Sprache oder auch Wissenschaft. Kulturelle Gewalt beeinflusst zudem, ob eine Situation oder Handlung überhaupt als gewaltvoll erkannt wird (Galtung 1998:343) und ermöglicht durch ihre Wirkmächtigkeit beispielsweise auch die Darstellung sich wehrender Opfer struktureller Gewalt als Aggressoren, indem Herrschaftsverhältnisse verschleiert werden (Galtung 1998: 350). Diese drei Formen der Gewalt können dabei auf verschiedene Arten miteinander interagieren und sich ergänzen (Galtung 1998: 350-351). An dieser Stelle wird deutlich, dass die oben geschilderten Regierungsweisen von Migration potenziell Formen kultureller Gewalt darstellen, mit denen eine in direkter und struktureller Gewalt resultierende Kontrolle von Migration legitimiert werden kann.
Für diese Arbeit soll das Gewaltdreieck nach Galtung um das Konzept der epistemischen Gewalt erweitert werden. Diese ist zu verstehen als der „Beitrag zu gewaltförmigen gesellschaftlichen Verhältnissen, der im Wissen selbst, in seiner Genese, Ausformung, Organisation und Wirkmächtigkeit angelegt ist“ (Brunner 2013 228-229). Diese Spielart mit Fokus auf die „Gewaltförmigkeit von Wissen(schaft) selbst“ (Brunner 2018: 26) verspricht im Kontext der Risikoanalyse als Wissensproduktion neue Erkenntnismöglichkeiten, da Ungleichheitsverhältnisse und Gewalt immer auch von entsprechenden Wissensbeständen begleitet und durch diese gerechtfertigt werden (Brunner 2016: 39). Epistemische Gewalt beinhaltet „sowohl Definitions- als auch Legitimationsmacht“ (Brunner 2018: 42) und normalisiert bestimmte Formen von Gewalt während sie andere delegitimiert. Eine Ausweitung des Gewaltbegriffes auf das Wissen bedeutet dabei jedoch keineswegs die Relativierung anderer Gewaltformen, sondern vor allem ihre Relationierung; epistemische Gewalt fungiert dabei als „Scharnier […] zwischen unterschiedlichen Formen und Dimensionen von Gewalt“ (Brunner 2016: 43-44). Die epistemische Gewalt selbst bleibt oft weitestgehend unsichtbar, da „sie kraft ihrer eigenen Normativität in Bezug darauf, was unter Gewalt zu verstehen sei, auch von kritischen Stimmen bislang kaum als Gewalt wahrgenommen wird“ (Brunner 2016: 40). Das Konzept der epistemischen Gewalt stammt aus der postkolonialen Theorietradition9. Es betont die Verbundenheit der Moderne und des Kolonialismus (Brunner 2018: 28-29) und die koloniale Dimension von Wissen und Macht, die stabilisierend auf die bis heute „global asymmetrischen Macht-, Herrschafts- und schließlich auch Gewaltverhältnisse“ (Brunner 2016: 40) wirken.
3. Methodik
Für die Untersuchung der von Frontex durchgeführten Risikoanalysen wird auf die Qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring zurückgegriffen (Mayring 2010; Mayring/Fenzl 2019). In ihrer Art als intersubjektiv überprüfbare interpretative Textanalyse (Mayring 2010: 602) scheint diese Methode für das Forschungsvorhaben insofern geeignet, als das die Auswertung des Materials mit den vorab deduktiv gebildeten Kategorien der vorgestellten Regierungsweisen von Migration und dem weiten Verständnis von Gewalt im Lichte der Forschungsfrage sinnvoll erscheint. Gleichzeitig sorgen die Vorabdefinition des Kategoriensystems sowie die regelgeleitete Interpretation im Allgemeinen für ein hohes Maß an Transparenz und Intersubjektiver Überprüfbarkeit, da gezeigt wird welche Konzeptionen den Analyseergebnissen zugrunde liegen. Dies erscheint gerade im Kontext der epistemischen Gewalt und dem Anspruch der Gewaltlosigkeit an die eigene Forschung unerlässlich. Allerdings hat die Kategoriengeleitetheit im Einzelfall den Verlust von Bedeutungsgehalten zur Folge (Mayring 2010: 611).
Für die Analyse wurden Frontex jährliche Risikoanalysen für die Jahre 2015 und 2020 ausgewählt, um einen längeren Zeitraum abzudecken und einen möglichen paradigmatischen Wandel, etwa in Folge des Sommers der Migration, zu erkennen. Das für die Analyse genutzte nominale Kategoriensystem (siehe den Kodierleitfaden im Anhang) umfasst die oben ausführlicher geschilderten Regierungsweisen Versicherheitlichung, Migrationsmanagement und Humanitarisierung sowie eine Kategorie „Gewalt“. Diese soll festhalten, ob, wann und wie Frontex sich in der Risikoanalyse auf, dem weiten Gewaltverständnis entsprechende, Gewaltverhältnisse bezieht oder diese im Sinne kultureller oder epistemischer Gewalt mit anderen Mitteln als mit dem Bezug auf die ausführlich geschilderten Regierungsweisen rechtfertigt. Auf die von Mayring geforderte Abgrenzung der Kategorien (Mayring/Fenzl 2019: 638) wurde bewusst verzichtet, da grundsätzlich davon ausgegangen wird, dass sich die entsprechenden Regierungsweisen und die verschiedenen Gewaltformen überschneiden und ergänzen. Dementsprechend waren auch Mehrfachkodierungen möglich. Im zweiten Analysedurchgang wurden die Oberkategorien zur besseren Übersichtlichkeit in induktive Unterkategorien überführt. Die Risikoanalysen wurden jeweils komplett mit MAXQDA kodiert10, wobei die kleinste kodierte Einheit die semantische Einheit war, da bereits Wortbestandteile zur Rhetorik der verschiedenen Regierungsweisen zugeordnet werden können. Die Ergebnisse der Inhaltsanalyse werden im Folgenden, nach einer kurzen Einordnung des Materials in den Kontext, präsentiert.
4. Analyse
Die jährlich veröffentlichte „Annual Risk Analysis“ wird von Frontex eigener „Risk Analysis Unit“ bereitgestellt und soll als Grundlage für Entscheidungen im europäischen Grenzmanagement gelten. Gegenstand der Risikoanalyse sind die als Sicherheitsproblem aufgefassten Phänomene der Migration und des grenzüberschreitenden Verbrechens11. Das „Common Integrated Risk Analysis Model“ (CIRAM) dient dabei als konzeptueller Rahmen, der das zu bewertende Risiko als Ergebnis aus der wahrgenommenen Bedrohung, der Fähigkeit des Grenzregimes zur Mitigation dieser und den daraus resultierenden Auswirkungen versteht12. Diese Risikoanalysen sind der Ausgangspunkt für Frontex weitere Aktivitäten darunter auch die sogenannten „joint operations“, die einen wichtigen Anteil an der Kontrolle von Migration im europäischen Grenzregime haben (Kasparek 2010: 126).
4.1 Ergebnisse der Inhaltsanalyse
Während der Untersuchung der Risikoanalysen konnte die Nutzung aller drei vorgestellten Regierungsweisen von Migration festgestellt werden. Dabei ließ sich zwischen den Analysen von 2015 und 2020 trotz der Krise des europäischen Grenzregimes im Sommer 2015 kein gravierender Unterschied bei der inhaltlichen Logik feststellen.
Paradigmatisch für beide Risikoanalysen ist die Konstruktion von „irregulärer“ Migration und damit auch Migrant*innen als Sicherheitsproblem. Bereits der omnipräsente Risikobegriff macht deutlich, dass Migration ebenso wie Terror oder grenzüberschreitendes Verbrechen als potenzielle Gefahr für die Sicherheit Europas konzeptualisiert wird, was dementsprechend restriktive Kontrollpolitiken legitimiert. Der Grund für die Auffassung als Sicherheitsrisiko bleibt dabei oft unspezifisch, während gleichzeitig sowohl die vermeintlichen Implikationen für das Innere der EU sowie für die europäische Außengrenze betont werden. Insbesondere in der Risikoanalyse von 2020 wird die EU dabei als zu schützende „area of freedom, security and justice“ (z.B. Frontex 2020: 55) dargestellt. In diesem Zusammenhang sind auch die in der Risikoanalyse verwendeten Fotografien zu erwähnen, die Grenzbeamt*innen als Beschützer*innen der EU und ihrer Grenzen darstellen. Auch in den Risikoanalysen selbst rückt die europäische Außengrenze als Ort, an dem sich die „migratory pressure“ (z.B. Frontex 2020: 22) manifestiert und so eine Gefahr für das Kontrollsystem darstellt, in den Fokus. Die Intaktheit der Grenze kann so als Legitimation für verschärfte Maßnahmen dienen. In diesem Kontext wird die potenzielle Umgehung dieses Systems und die damit einhergehende Unkenntnis über die Nationalität der Migrant*innen zum Sicherheitsrisiko erklärt (z.B. Frontex 2015: 20). Die Notwendigkeit der strikten Kontrolle und Erfassung von Migrant*innen wird dabei auch mit dem Verweis auf Terrorismus und grenzüberschreitendes Verbrechen legitimiert, da diese möglicherweise dieselben Wege in die EU nutzen können. Die Erfassung von Migrant*innen in Datenbanken wie EURODAC wirkt jedoch wie ein „selective filter to the national asylum systems within the European Union“ (Kasparek 2016: 64) und kann für Migrant*innen Ausschluss aus diesen Systemen und Abschiebung bedeuten. Zudem wird die „irreguläre“ Migration auch als Einnahmequelle des organisierten Verbrechens problematisiert. Diese soll durch die stärkere Kontrolle und Unterbindung entsprechender Praktiken, die dann auch mit der Verhinderung von Migration einhergehen, beseitigt werden. Begleitet werden diese Argumentationen auch von der Forderung nach der Kooperation mit Drittstaaten, die langfristig im Rückgang der Migration resultieren soll (z.B. Frontex 2020: 19).
Der Grundgedanke des Migrationsmanagements, die Regulierung von Migration im Sinne der Förderung des Erwünschten und der Restriktion des Unerwünschten wird nur an einer Stelle der Risikoanalyse des Jahres 2015 explizit erwähnt und folgt direkt den Vorstellungen der Europäischen Kommission (Frontex 2015: 42). Allerdings weist die Omnipräsenz der Kategorisierung von Migration als „irregulär“ und der damit einhergehenden Handlungen wie das Überschreiten der Grenze als „illegal“ darauf hin, dass eine klare Unterscheidung von akzeptierten und nicht-akzeptierten Formen der Migration besteht. So wird die Beschränkung Letzterer, beispielsweise in ihrer Eigenschaft als angebliches Sicherheitsrisiko, legitimiert. Gleichzeitig sorgt eine Managementrhetorik mit der intensiven Nutzung von Begriffen wie „analysis“ oder „border management“ und dem ständigen Verweis auf Daten, Fakten, Methodik und die damit vermeintlich einhergehende Objektivität dafür, dass das europäische Grenzregime als ein gegebenes System erscheint, das bestmöglich verwaltet und optimiert werden sollte. Dies verschleiert ebendiese Ausschlussmechanismen, die in der Grundlogik dieses Systems angelegt sind und sorgt so dafür, dass die Entscheidung wer nach Europa kommen darf als neutral und unpolitisch erscheint und dementsprechend schwer hinterfragbar ist.
Parallel dazu erfolgt eine Selbstdarstellung als Retter und Beschützer der Migrant*innen, etwa auf dem Mittelmeer oder bei der Hilfeleistung nach dem Übertreten der Grenze. Dies ist aber häufig verbunden mit der Legitimation von Kontrollpraktiken oder gar der Verhinderung von Migration aufgrund ihrer vermeintlich humanitären Funktion (Frontex 2020: 55). Zudem wird auch betont, dass sich entsprechende Hilfeleistungen zu Lasten der Sicherheitsmaßnahmen auswirken (z.B. Frontex 2015: 5). In diesem Zusammenhang wird gelegentlich auch auf Menschenrechte oder Grundrechte als Rahmen aller Handlungen oder den nötigen Schutz besonders vulnerabler Gruppen verwiesen. Gleichzeitig werden stetig die teilweise lebensgefährlichen Risiken der Migration betont, welche allerdings mitnichten darauf zurückgeführt werden, dass es für Migrant*innen kaum legale oder ungefährliche Wege gibt, um nach Europa zu kommen. Vielmehr werden Schlepper für die Gefahren verantwortlich gemacht, da diese ihren Profit über die Gesundheit der Migrant*innen stellen und daher beispielsweise nicht-seetüchtige Boote für die Überfahrt nach Europa nutzen (z.B. Frontex 2015: 5). Nach dieser Logik wird die Verhinderung von „irregulärer“ Migration zu einem die Migrant*innen beschützenden Akt.
In der Risikoanalyse wird sich auf zwei Arten explizit auf Gewalt bezogen: Zum einen werden direkte und strukturelle Gewalt als Auslöser von Migration benannt, auch wenn diese weiterhin als „irregulär“ klassifiziert wird. Zum anderen wird Gewalt im Rahmen des europäischen Grenzregimes erkannt, wenn sie von Kriminellen gegen Migrant*innen oder von Migrant*innen selbst beim Versuch die Grenze zu überqueren ausgeübt wird. Vom Grenzregime ausgehende Gewalt wird dagegen nicht erwähnt; es erscheint allerdings denkbar, dass diese mit dem Verweis auf die vermeintliche Aggression als Schutzmaßnahme gerechtfertigt werden könnte. Dies stimmt mit der generellen Konstruktion der EU in den Risikoanalysen überein. So wird die EU als sicherer, gewaltfreier und gerechter Raum dargestellt, der vor den Bedrohungen von außerhalb geschützt werden müsse. Diese Konstruktion von Innen und Außen spiegelt sich auch in der allgegenwärtigen Kategorisierung von Migration als „irregulär“ und der mit ihr verbundenen Handlungen als „illegal“ wider, die den Ausschluss von Migrant*innen mit dem Verweis auf die vermeintliche nicht-Berechtigung und nicht-Regularität legitimiert und fortwährend reproduziert. Dies trägt, genau wie die diskursive Nutzung der Regierungsweisen der Versicherheitlichung, des Migrationsmanagements und der Humanitarisierung, dazu bei, die grundlegende Funktionslogik des europäischen Grenzregimes, die auf Kontrolle und letztendlich Verhinderung von Migration abzielt, zu bestätigen.
4.2 Die Risikoanalyse im Kontext des weiten Gewaltverständnisses
Das europäische Grenzregime ist von vielfältigen Formen direkter und struktureller Gewalt geprägt, die Migrant*innen unter Umständen während des Migrationsprozesses oder sogar nach dessen Ende erfahren (vgl. Bank et al. 2017: 15-16). Dazu gehören nicht zuletzt die gefährlichen Routen, um in die EU zu gelangen oder die unmittelbar mit direkter Gewalt verbundenen Pushbacks. Ebenso ist der Logik des Grenzregimes die Unterscheidung zwischen den Menschen, die zu europäischen Gesellschaften dazugehören und denen, die nicht Teil dieser Gesellschaften sind, unmittelbar eingeschrieben. Für Letztere bedeutet diese Kategorisierung den Ausschluss aus der und durch die EU und resultiert in struktureller Gewalt, die sich beispielsweise in unterschiedlichen Lebenschancen zeigt. Zu dieser Hierarchisierung tragen auch die in den von Frontex durchgeführten Risikoanalysen auffindbaren Regierungsweisen von Migration bei. Ob über die Konstruktion als Sicherheitsrisiko, die Unterscheidung zwischen erwünschter und unerwünschter Migration oder die Betonung der Risiken des Migrationsprozesses selbst: All diese Regierungsweisen legitimieren, oft in gegenseitiger Ergänzung, restriktive Migrationspolitiken, die auf die Kontrolle und Verhinderung von Migration abzielen. Auf diese Weise rechtfertigen und normalisieren sie die direkte und strukturelle Gewalt, die dem europäischen Grenzregime inhärent ist und sind somit selbst als kulturelle beziehungsweise epistemische Gewalt anzusehen. Auch die Risikoanalyse selbst reproduziert das bestehende Grenzsystem und damit einhergehende Machtverhältnisse und Ungleichheiten, indem die Konzeptualisierung von Migration als ein mit Regulierung und Verhinderung lösbares Problem übernommen wird. Die Risikoanalyse greift dabei nicht nur auf Wissensbestände wie die geschilderten Regierungsweisen und damit einhergehende Kategorisierungen zurück, die andere Formen von Gewalt legitimieren, sondern verdeckt auch selbst ausgeübte Gewalt, indem die eigene Verantwortung durch humanitäre Argumentationen verschleiert wird. Auch der hochpolitische Charakter der Entscheidung welche Form der Migration legitim oder regulär (oder legal) ist, wird durch ein vermeintlich neutrales, optimierungsorientiertes, daten- und faktenbasiertes Management von Migration unsichtbar gemacht. Das Wissen, das Frontex mit der Risikoanalyse reproduziert und auch selbst produziert legitimiert sowohl direkte als auch strukturelle Gewalt und bestätigt die Funktionslogik des europäischen Grenzregimes, die in letzter Konsequenz den Tod von Menschen bereitwillig in Kauf nimmt. Damit kann auch die Risikoanalyse selbst in ihrer Eigenschaft als Wissensproduktion als Form epistemischer Gewalt gelten.
5. Fazit und Ausblick
Insgesamt zeigt sich, dass sich die drei vorgestellten Regierungsweisen, wenn auch in unterschiedlicher Intensität, in den Risikoanalysen von Frontex wiederfinden lassen. Gerade die Versicherheitlichung, also die Konstruktion von Migration als Sicherheitsproblem und Gefahr erscheint prägend für die Risikoanalyse. Ergänzt wird dies durch eine spezifische, Objektivität suggerierende Managementrhetorik und die implizite, aber omnipräsente Unterscheidung zwischen „irregulärer“ und „regulärer“ Migration, die im Kontext der Regulierung darauf hinweist, wer erwünscht und wer nicht erwünscht ist und entsprechende Ausschlüsse herstellt. Über die Nutzung von humanitären Argumenten positioniert sich Frontex zudem als Helfer und Retter. Gleichzeitig wird die Lebensgefahr für Migrant*innen, die vor allem besteht, weil die Möglichkeiten zur legalen und ungefährlichen Migration kontinuierlich beschränkt wurden, zur Rechtfertigung der Verhinderung von Migration genutzt. Gemeinsam ist den drei Regierungsweisen, dass sie zur Legitimation restriktiver Migrationspolitiken und der daraus resultierenden direkten und strukturellen Gewalt genutzt werden können. Dies zeigt sich auch in ihrer Nutzung in der Risikoanalyse von Frontex, die auch insgesamt in ihrer Eigenschaft als Wissensproduktion die Logiken des europäischen Grenzregimes und damit einhergehende Macht-, Herrschafts- und Gewaltverhältnisse bestätigt und reproduziert. Aufgrund ihrer Legitimationsfunktion für direkte und strukturelle Gewalt zuungunsten von Migrant*innen scheint eine Einstufung der Risikoanalyse als epistemisch gewaltvoll daher gerechtfertigt.
Das sich im Vergleich der Risikoanalysen von 2015 und 2020 kaum Unterschiede gezeigt haben, kann durchaus als Zeichen der Beständigkeit und Wirkmächtigkeit der der Regierung von Migration zugrunde liegenden Logiken gesehen werden. Um diese Annahme zu bestätigen, könnte ein Vergleich mit der Risikoanalyse von 2016 vorgenommen werden, die, unmittelbar unter dem Eindruck des temporären Scheiterns des europäischen Grenzregimes im Sommer 2015, möglicherweise einen stärkeren Kontrast zum gewohnten Modus Operandi darstellt.
Aus methodischer Sicht scheint die Qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring insbesondere für die Anwendung der vorab gebildeten Kategorien und die damit einhergehende Systematisierung des Materials gut geeignet. Allerdings war die Erfassung des Nicht-Gesagten, beispielsweise der Gewalt, die Migrant*innen durch europäische Grenzbeamt*innen zugefügt wird oder der europäischen Verantwortung für die Nicht-Existenz legaler oder zumindest sicherer Migrationsrouten, mit dem Kategoriensystem allein nicht möglich und bedurfte stärker eigener Interpretation.
Mit dem Erkennen des Beitrages der Risikoanalyse zur Legitimation von Gewalt und der daraus resultierenden Einstufung dieser Praxis als epistemische Gewalt zeigt sich das macht- und herrschaftskritische Potenzial eines weiten Gewaltverständnisses. Gerade im Lichte des Konzeptes der epistemischen Gewalt könnte sich zudem eine stärker postkoloniale Theorieperspektive auf die Risikoanalyse von Frontex als analytisch fruchtbar erweisen. Diese hätte das Potenzial, die dem europäischen Grenzregime unterliegenden Machtstrukturen und Herrschaftsverhältnisse explizit im Kontext der Kolonialität von Wissen und Macht zu problematisieren. Schließlich ist ein verbessertes Verständnis der Gewaltförmigkeit der Risikoanalyse sowie des europäischen Grenzregimes als Ganzes die Voraussetzung dafür, die asymmetrischen Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu skandalisieren und ihnen Alternativen entgegenzusetzen.
Quellen- und Literaturverzeichnis
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Anhang
Kodierleitfaden
Kategorie | Definition | Beispiel |
---|---|---|
Versicherheitlichung | Konstruktion von Migration als Sicherheitsthema; Verweis auf vermeintlich destabilisierende Effekte für Sicherheit, Identität oder wirtschaftliches System; Nutzung Gefahr suggerierender Metaphern oder Symboliken | „the growing pressure at our external borders”; „The record number of migrants detected at the external borders of the EU had several implications for border-control authorities and EU internal security” |
Migrationsmanagement | Versuch Migration „bestmöglich“ zu regulieren; Unterscheidung von erwünschter und unerwünschter Migration; Nutzung von Managementrhetorik; Darstellung der Maßnahmen als neutral, objektiv oder faktenbasiert | „use of data for management purposes“; „Frontex promotes and coordinates European border management with a special focus on migration flows“; „Frontex will provide technical and operational support“ |
Humanitarisierung | Legitimation restriktiver Kontrollpolitiken mit dem Verweis auf den Schutz von Migrant*innen; Bereitstellung von Hilfe nicht aufgrund rechtlicher, sondern moralischer Verpflichtung; Menschenrechte als klassischer Referenzrahmen | „Smugglers typically make use of frail, overcrowded boats, with limited fuel available to maximise their profits, putting migrants’ lives at considerable risk”; „preventing tragic events such as those recurrently happening in the Mediterranean” |
Gewalt | Bezug auf/Nutzung von Gewalt im Sinne des weiten Gewaltverständnisses: Direkte Gewalt, strukturelle Gewalt und/oder kulturelle/epistemische Gewalt | „escaping violence in their own country”; „authorities reported several violent attempts to cross the fence”; „illegal border-crossings” |