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Zwischen Alltag, Kämpfen, Sehnsucht und Selbstermächtigung.

Zwei Biographische Fallstudien von Frauen, die in den 1960er Jahren aus Griechenland in die BRD migrierten.

Published onJan 20, 2023
Zwischen Alltag, Kämpfen, Sehnsucht und Selbstermächtigung.
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Dieser Artikel befasst sich mit den Biographien von Frauen, die in den 1960er Jahren aus Griechenland in die Bundesrepublik Deutschland (BRD) migrierten. Der Zeitraum ist dabei nicht zufällig gewählt: Das Land war zu Beginn der sechziger Jahre von einer Wirtschaftskrise sowie einer autoritären Politik der amtierenden Regierung gekennzeichnet. Nach einer kurzen Phase der politischen Liberalisierung etablierte sich schließlich eine Militärdiktatur. 1960 trat das zudem das bundesrepublikanische Anwerbeabkommen für griechische Arbeitnehmende in Kraft. Zahlreiche griechische Staatsbürger*innen, davon knapp ein Drittel Frauen, migrierten in dem Jahrzehnt in die BRD (vgl. Eisenbichler 2011; vgl. Mattes 2005: 40)[1]. Viele dieser Frauen leben heute noch dort und sind wichtige Zeitzeuginnen - für die Lebensrealitäten ehemaliger ‚Gast’-Arbeiterinnen[2] und gesellschaftliche Prozesse, die den Wandel der Bundesrepublik hin zu einer postmigrantischen Gesellschaft ausmachten (vgl. Motte, Ohlinger 2010). Dennoch sind sie als Subjekte mit Agency - als Personen mit eigenen Perspektiven, Erfahrungsschätzen und Handlungsstrategien - in wissenschaftlichen und journalistischen Formaten unterrepräsentiert (vgl. Mattes 2005: 10). Ein zentrales Anliegen dieses Artikels ist daher die Sichtbarmachung der Lebenserzählungen einiger jener Frauen, und zwar auf eine Art, die deren Erleben und Relevanzsetzungen in den Mittelpunkt rückt. Um die Lebenserzählungen entsprechend aufzubereiten führte ich narrative Interviews (vgl. Küsters 2009) mit mehreren Frauen und griff auf Auswertungsverfahren zurück, die in der interpretativen Sozialforschung zur Anwendung kommen, insbesondere der biographischen Methode nach Schütze (1984; 1987) und Rosenthal (2014). Im Sinne einer feministischen und machtsensiblen Herangehensweise war es mir zudem wichtig meine Forschung im Dialog mit den Personen durchzuführen über die ich schrieb (vgl. Haraway 1995: 74). So traf ich wenn möglich method(olog)ische Entscheidungen in Absprache mit ihnen. Wir besprachen auch die ersten Entwürfe der biographischen Porträts; ich band die Rückmeldungen der Frauen wiederum im Sinne einer dialogischen Forschung in die endgültige Auswertung mit ein. Das tat ich, weil ich den beiden als Person gerecht werden und ihre Perspektiven auf Alltag, Kämpfe, Emanzipationsmomente und Träume korrekt abbilden wollte. Meine ‚Fallhöhe’ war dabei, dass die Frauen am Ende sagen konnten: Was du schreibst ist manchmal hässlich oder schmerzhaft, vielleicht lässt es Menschen auch wütend zurück, aber genau so ist es gewesen. Ich wollte, dass sie sich repräsentiert sahen. Ein weiteres Anliegen war es mir, meine Position im Forschungsprozess mit in die Analyse einzubeziehen und als ‚Teil der Daten’ sichtbar zu machen. Ich selbst bin Kind einer Frau, die im Rahmen des Anwerbeabkommens in die BRD einreiste und habe eine eigene Migrationsgeschichte. Meine Interviewpartner*innen bezogen sich wiederholt auf diese vermeintlichen Gemeinsamkeiten. Ein Beispiel dafür: Mein Anliegen - Interviews im Rahmen eines universitären Forschungsprojektes durchzuführen - legitimierten sie über meine Position. So formulierten sie als eines ihrer zentralen Motive für die Teilnahme am Forschungsprojekt mich in meinem Studium „unterstützen“ zu wollen. Das war für sie ebenso wichtig wie das Anliegen, dass ihre Geschichten „erinnert“ und „gehört“ werden. Ich wurde von ihnen dabei als „Tochter einer Griechin wie wir“, „Tochter einer ‚Gast’-Arbeiterin“ oder als „ Griechin“ adressiert. In diesen Anrufungen sehe ich eine Markierung der Zugehörigkeit zur selben sozialen Gruppe, die über Bezugnahme auf das gemeinsame Herkunftsland oder die vermeintlich ähnliche diasporische Erfahrung definiert wird. An diese Markierung der Zugehörigkeit wird eine solidarische Haltung geknüpft. Mich unterstützen zu wollen interpretiere ich daher als Solidaritätsgeste und als Ausdruck von innerhalb einer diasporischen Community erarbeiteten Fähigkeit, eigene soziale Netzwerke aufzubauen - in einer Gesellschaft, die zum Migrationszeitpunkt der Beiden sozial verschlossen und rassistisch war und dies auch immer noch ist (vgl. Castro Varela 2008: 80). Daran anschließend stellt sich mir die zugegebenermaßen rhetorische Frage, ob der Ausdruck der Parallelgesellschaften, mit dem diasporische oder migrantisierte Communities und Netzwerke in öffentlichen Diskursen nach wie vor bezeichnet werden, sich nicht wesentlich präziser beschreiben ließe als hart erarbeitete Strukturen der Selbstorganisation von marginalisierten Gruppen innerhalb einer Dominanzgesellschaft, in der diese mit struktureller Benachteiligung und Ausschlüssen konfrontiert sind (vgl. Castro Varela 2008: 80).

Historische, politische und soziale Kontextualisierung der Migrationsprojekte

Griechenlands soziales und politisches Klima war zu der Zeit, als meine Interviewpartnerinnen ihre Migrationsentscheidungen trafen, von einer starken Rezession und politischer Repression gegen linke, sozialdemokratische und andere kritische Akteure geprägt. Die Basis dafür wurde während der Zeit der deutschen Besatzung in den 1940ern gelegt. 1967 putschte sich eine rechtsradikale Militärdiktatur an die Macht, die sich bis 1974 hielt. In diesem Zeitraum nutzten besonders viele griechische Staatsbürgerinnen die vorhandenen Möglichkeiten um ihr Recht auf Migration umzusetzen, da sie sich verstärkt mit Armut, Repression oder einem Mangel an beruflichen und privaten Zukunftsperspektiven konfrontiert sahen (vgl. Eisenbichler 2011).

Um einen offiziellen Aufenthalt in der BRD zu erhalten gab es damals verschiedene Möglichkeiten: Zum einen trat 1960 das erste bundesrepublikanische Anwerbeabkommen für griechische Arbeitnehmende in Kraft. Die meisten Frauen reisten über entsprechende Arbeitsverträge in die BRD (vgl. Mattes 2005: 49). Andere nutzten Einreisemöglichkeiten über Studierendenvisa, Stipendien des DAAD oder politisches Asyl (vgl. Stoikou 2021; Ventura 2007: 142). Zwei dieser Frauen, die aus verschiedenen Gründen und auf jeweils unterschiedlichem Weg einreisten, will ich nun vorstellen: Vassiliki Kyriakou und Efthymia Cosméa.[3] Frau Cosméa war zum Einreisezeitpunkt ledig und kinderlos und reiste über ein Studierendenvisum in die BRD. Frau Kyriakou hingegen immigrierte 1967 im Rahmen des Anwerbeabkommens, war verheiratet und hatte zwei Kinder.

Biographisches Portrait von Efthymia Cosméa

Efthymia Cosméa stammt aus einer antifaschistisch und sozialistisch geprägten Familie von Tabakbäuer*innen. Sie ist zum Interviewzeitpunkt 73 Jahre alt. Nach dem durch politische Repressalien verursachten Tod ihres Vaters im Jahr 1968 kann sie ihren Bildungsaspirationen in Griechenland nicht mehr nachgehen. Sie beantragt deshalb 1969 ein Visum für einen Sprachkurs in der BRD, um anschließend das Studienkolleg zu besuchen und ihren Lebenstraum eines Hochschulstudiums zu verwirklichen - als Erste in ihrer Familie. Den Magisterabschluss in Germanistik erreicht sie schließlich nach mehreren Jahren Studium und Arbeit in Vollzeit mit Hilfe eines Stipendiums. Der Drang nach Verwirklichung ihrer Bildungsaspirationen stellt ihre zentrale Antriebskraft dar: „In Deutschland habe ich anfangs viel geweint, weil ich einsam war. Mein Kissen war immer nass. Ich hatte Sehnsucht, das kann man nicht beschreiben, aber ich wollte es schaffen. So wuchs in mir ein Widerstand.“

Frau Cosméa arbeitet nach dem Studium als Deutsch-als-Zweitsprache-Lehrerin und unterstützt ihre Mutter bis zu deren Tod finanziell. Die Perspektive der baldigen Rückkehr stellt während des Studiums und in den ersten Jahren danach eine Orientierungsinstanz und Möglichkeit dar, mit Ausgrenzungs- und Differenzerfahrungen, aber auch Emotionen von Trauer und Sehnsucht umzugehen. Ihr fehlen aber die finanziellen Mittel, um sich in Griechenland eine neue Existenz aufzubauen. Ende der 1970er Jahre lernt sie ihren späteren Ehemann kennen, heiratet und bekommt ein Tochter, woraufhin ihre Rückkehrpläne in den Hintergrund rücken. Sie arrangiert sich vorläufig mit einer Bleibeperspektive in der BRD und arbeitet parallel daran, ihre Verbindungen nach Griechenland zu erhalten. Der biographisch konstruierte Raum ‚Griechenland - BRD’ wird durch die Pflege von Beziehungen im Herkunftsland mittels regelmäßiger Reisen, der Organisation von Aktivitäten in der diasporischen Community und einer muttersprachlichen Ergänzungsausbildung ihrer Tochter, die ansonsten das deutsche Schulsystem durchläuft, aufrecht erhalten. Nach dem frühen Tod ihres Ehemannes -mit dem sie nach der Verrentung zurückzukehren plante - gibt sie ihre Rückkehrpläne auf, verbringt aber drei bis vier Monate im Jahr an ihrem Herkunftsort. In den Folgejahren versteht Frau Cosméa ihre Erfahrungen immer mehr als Ressource und setzt sie zur Bewältigung von Entfremdungsgefühlen gegenüber dem „modernen“ Griechenland ein, in dem sie sich immer öfter „verloren“ fühlt. Das Gefühl der Zugehörigkeit zu mehreren sozialen und geographischen Räumen und die Neuverhandlung ihrer Identität erwirkt sie in Form von biographischer Arbeit. Frau Cosméa bezeichnet sich zum Ende ihrer Erzählung als „Kosmopolitin“. Ihre Vorstellung von „Heimat“ sei mittlerweile nicht mehr mit einem Ort, sondern mit dem Gefühl von “Geborgenheit und Zufriedenheit“ verbunden.

Biographisches Portrait von Vassiliki Kyriakou

Vassiliki Kyriakou reist im Herbst 1967 wie zuvor schon ihr Bruder über ein Arbeitsvisum in die BRD. Kurze Zeit später folgt ihr Mann und nochmal zwei Jahre später ihre beiden kleinen Töchter. Während der ersten Jahre lernt Frau Kyriakou selbstständig Deutsch, obwohl sie Vollzeit in Lohn- und Carearbeit eingebunden ist. Frau Kyriakou entschied sich für die Migration in die BRD, da sie und ihr Ehemann in Griechenland nicht genug verdienten, um den Lebensunterhalt für die Familie zu bestreiten, ihr Bruder bereits dort lebte und somit eine soziale Anbindung bestand. Frau Kyriakou und ihr Ehemann waren bis zur Verrentung beide in Vollzeit als Industriearbeitende tätig. Die gemeinsame Rente beträgt insgesamt 1200 Euro[4]. Frau Kyriakou geht im Alter von 77 deshalb einem Mini-Job als Reinigungsfachkraft nach, um genug Geld für den Lebensunterhalt zu erwirtschaften. Auch sie hatte den Plan, spätestens nach der Verrentung gemeinsam mit ihrem Ehemann nach Griechenland zurück zu kehren. Der Umzug lässt sich allerdings nicht finanzieren. Im gemeinsamen Herkunftsort, wo das Ehepaar in den siebziger Jahren mit dem Bau eines Hauses begann, haben die Beiden mittlerweile ihre soziale Anbindung verloren. Frau Kyriakous anfangs deutlich intendierter, aber auch später weiterbestehender Wunsch nach Rückkehr wirkte sich auch auf die Biographien der Töchter aus: Die beiden besuchten in der BRD eine Schule, die auf die griechische und nicht die deutsche Hochschulreife vorbereitete. Anschließend zogen sie für ihr Studium nach Athen. Eine lebt mittlerweile wieder in Deutschland und arbeitet als medizinische Assistenz in einer Fachklinik. Die Zweite blieb nach Beendigung ihres Lehramtsstudiums in Griechenland und gründete eine eigene Familie, ihr Mann arbeitete zum Interviewzeitpunkt als Ingenieur für einen Automobilkonzern in der BRD.

Genderspezifische Dimensionen des Anwerbeabkommens

1973 stellten Frauen 30% aller angeworbenen Personen. Diese hohe Zahl ist kein Zufall. Deutsche Arbeitgeber*innen warben gezielt Frauen an, um den nach gender segregierten und hierarchisierten Arbeitsmarkt zu bedienen. Für diesen sollten kostengünstige weibliche Arbeitskräfte bereitgestellt werden. Der Lohn der angeworbenen Arbeiter*innen an einem Industriearbeitsplatz war gemessen am durchschnittlichen bundesrepublikanischen Lohnniveau für abhängig Beschäftigte[5] extrem niedrig - teilweise nur halb so hoch.  Der Lohn der Frauen lag nochmal 30% - 40% unter jenem der Männer.  Diese Praxis wurde von der Regierung unterstützt (vgl. Matthes 2019). Für die angeworbenen Frauen waren nur Beschäftigungen vorgesehen, für die inländische Arbeitnehmerinnen nicht ausreichend zur Verfügung standen oder die diese nicht ausführen wollten. In den Branchen, in denen die Meisten beschäftigt wurden - der Textil-, Lebensmittel- und Elektroindustrie - waren gesundheitsschädigende Akkord- und Schichtarbeit von bis zu zwölf Stunden pro Schicht üblich. Auch Frau Kyriakou arbeitete in ihrem ersten Arbeitsverhältnis sechs Tage pro Woche Akkord in 10-Stunden-Schichten. Die Arbeiter*innen wurden in geschlechtergetrennten Wohnheimen mit Mehrbettzimmern[6] untergebracht - diese waren oft in marodem Zustand. Eine gemeinsame Unterbringung von Familienangehörigen war in den Wohnheimen nicht vorgesehen und wurde sanktioniert (vgl. Mattes 2005: 27 f.; Mattes 2019).

Trotz der gezielten Anwerbepraxis von Frauen war das Arbeitsprofil des Abkommens auf eine flexibel für schwere körperliche Arbeit einsetzbare, ledige, kinderlose, sowie männlich imaginierte ‚Arbeitskraft’ zugeschnitten. Diese Anforderungen waren problematisch, da die angeworbenen Personen als ‚Arbeitskraftreserve’ und nicht als Menschen betrachtet und entsprechend behandelt wurden. Besonders deutlich wurde die Problematik, wenn die Anforderungen auf Frauen übertragen wurden, denn die Bewerberinnen entsprachen häufig nicht dem vom den Unternehmen geforderten Profil. Sie mussten auch dann in Vollzeit arbeiten, wenn sie zu Hause Angehörige zu versorgen hatten (vgl. Matthes 2005: 30; Matthes 2019; Ventura 2007: 144). Viele, so auch Frau Kyriakou, ließen ihre Kinder daher vorerst im Herkunftsland zurück. Nahmen Frauen vor Ende ihrer Vertragsfristen unbezahlten Urlaub, zum Beispiel weil eine Erkrankung der Kinder eine Reise ins Herkunftsland notwendig machte, wurden sie oft fristlos gekündigt. Auch Frau Kyriakou verlor auf diese Weise ihre Arbeitsstelle und ihren Platz im firmeneigenen Wohnheim und wurde über Nacht obdachlos. Dabei waren angeworbene Arbeitnehmer*innen den deutschen arbeitsrechtlich gleichgestellt und hätten Anspruch auf Ausfallleistungen gehabt. Sie wurden aber fast nie über ihre Rechte informiert - weder von Arbeitgeber*innen noch von Gewerkschaften (vgl. Mattes 2019). An diesem Beispiel zeigt sich die Brutalität des Prinzips ‚Gastarbeit’, also der „Ausnutzung von Arbeitskraft bei gleichzeitiger Auslagerung aller reproduktiven Aufgaben in die Herkunftsländer“ (Mattes 2019). Es zeugt auch davon, dass es für weite Teile der deutschen Gesellschaft keinesfalls selbstverständlich war und ist, Menschen nichtdeutscher Staatsangehörigkeit gleichberechtigte sozialstaatliche Teilhabe zuzugestehen“ (ebd.).

An dem Beispiel wird auch deutlich wie herausfordernd es war, simultan den Anforderungen der Arbeitnehmerinnen- und Mutterrolle gerecht zu werden. Frau Kyriakou durchlebte aufgrund der Mehrfachbelastung durch genderbasierte und rassistische Diskriminierung und extreme materielle Unsicherheit eine sehr schwere Zeit. Situationen, in denen sie ihrem eigenen Anspruch oder den an sie herangetragenen Erwartungen nicht gerecht werden konnte, beschreibt sie als extrem schmerzhafte Erfahrungen. Gleichzeitig demonstriert Frau Kyriakou eine große Handlungsfähigkeit: Über mehrere Jahrzehnte schafft sie es immer wieder sich neue und bessere Arbeitsstellen zu suchen, ihren Kindern einen sozialen Aufstieg zu ermöglichen, in Eigeninitiative Deutsch zu lernen und Ressourcen zu entwickeln, um eine gute psychische und körperliche Verfassung zu wahren und ein reiches Sozialleben aufrecht zu erhalten. Die Resignation und Traurigkeit, die in ihrer Erzählung oft mitschwang - sie bezeichnete ihre jungen Erwachsenjahre in der BRD beispielsweise als „leere, verlorene Zeit“ und sagte sie hätte „kein Leben“ gehabt - ergeben sich meiner Ansicht nach vor allem daraus, dass Frau Kyriakou kontinuierlich mit Mehrfachdiskriminierungen zu kämpfen hatte, die ihre Handlungsspielräume einschränken - und zwar auf symbolischer, struktureller, ökonomischer und interpersoneller Ebene. Für die Zukunft wünscht sich Frau Kyriakou, dass ihr ihre gute Gesundheit erhalten bleibt. Ich schließe ihr Portrait mit den Worten, mit denen sie auch ihr Interview beendete: „Manchmal sage ich zu meiner Arbeitskollegin: mein Gott, ich fühle mich wie ein Vogel. Ich springe auf der Treppe, wenn ich sie rauf und runter gehe. Gott soll mich so behalten, denke ich. So fröhlich und so jugendlich wie ich mich fühle.“ 

Fazit

Die Realitäten von Frau Kyriakou und Frau Cosméa entfalten sich in den geographischen Räumen Griechenland und BRD, aber auch an Orten der Imagination. Um ihre Subjektivierungsprozesse und damit verwobene Entscheidungen und Haltungen fassbar zu machen schlage ich deshalb vor, die Biographien in Anlehnung an die Soziologin Irini Siouti als „transnationale Sozialräume“ (2013: 48) zu betrachten. Denn die Leben der beiden Frauen sind multilokal organisiert, sei es an Orten der Sehnsucht, der Träume, der Erinnerungen oder der alltäglichen Lebensrealität. Ort ist dabei nicht nur geographisch zu verstehen, sondern auch „als Metapher für die Ansammlung von Wissen und Erfahrung.“ (ebd.)

Neben einer transnationalen und intersektionalen[7] Perspektive halte ich es auch für zentral, die Biographien in ihrer intergenerationalen Dimension zu betrachten. Denn was in den Erzählungen der Frauen sehr deutlich wurde: Wie sie sich verorten und identifizieren hat viel damit zu tun, wo sich ihre Eltern und ihre Kinder aufhalten. Auch die Bemessung von Erfolg und Zufriedenheit mit dem eigenen Leben wird auf die Biographien der Kinder ausgeweitet.

Daran anknüpfend will ich auch den Begriff des Migrationshintergrundes kritisieren, der besonders auf Nachkommen der angeworbenen Arbeiter*innen angewandt wird (vgl. Utlu 2021: 446). Ich halte ihn für unterkomplex und biassed, unter anderem deswegen, da sich intergenerational und transnational entfaltende Lebensrealitäten und Identitäten durch ihn nicht adäquat beschreiben und analysieren lassen.

Beiden Frauen gelang es trotz Benachteiligungen eine Praxis von produktivem und solidarischen Handelns zu entwickeln und dadurch transformative soziale Prozesse mitzutragen. Sie bereiteten den Weg für weitere Generationen, die sich Platz in der bundesrepublikanischen Gesellschaft nehmen und über die Ressourcen verfügen, um lautere Kritik am Rassismus der bundesrepublikanischen Dominanzgesellschaft zu formulieren. Dafür möchte ich Frau Kyriakou und Frau Cosméa und allen anderen der ersten Generation meinen Respekt aussprechen.


[1] Griechische Staatsbürger*innen stellten 1961 6,13% und 1971 11,49% aller angeworbenen Personen und bildeten damit die viertgrößte Gruppe (vgl. Höhne et al. 2014: 5). 1961 bestand die griechische Diaspora in der BRD zu 82% aus Männern. Von 1965 bis 1970 stieg der Anteil der Frauen auf 45% an (vgl. Ventoura 2007:  S. 140). Bis zur Rezession 1967 stellten sie sowohl im länderübergreifenden Vergleich aller angeworbenen Frauen als auch unter allen in die BRD migrierten griechischen Staatsbürger*Innen einen bedeutenden Anteil (vgl. Mattes 2005: 40). Im Jahr des Anwerbestopps 1973 lebten 400.000 griechische Staatsangehörige in der BRD (vgl. Höhne et al 2014: 16; Motte, Ohlinger 2010).

[2] Die amtliche Bezeichnung für Personen, die im Rahmen der Anwerbeabkommen in die BRD migrierten - die BRD hatte ähnliche Abkommen auch mit der Türkei, Portugal, Spanien, Italien oder Marokko abgeschlossen - lautete ‚ausländische Arbeitnehmer’. Jedoch wurde der Begriff in der öffentlichen Diskussion selten verwendet. Häufiger wurde der aus der NS-Zeit übernommene Terminus ‚Fremdarbeiter’ genutzt, bis dieser durch den heute noch gängigen Begriff ‚Gastarbeiter’ abgelöst wurde. Dieser suggeriert eine zeitliche Begrenzung des Aufenthalts der Betreffenden in der BRD und eine soziale Position, die keine der Zugehörigkeit ist, sondern einen ‚Besucher*innenstatus’ festschreibt. Er verschleiert damit gesellschaftliche Wandlungsprozesse der BRD hin zu einer Migrations- und postmigrantischen Gesellschaft. Da sich aus der sozialen Position von ‚Gastarbeiter*innen’ spezifische Benachteiligungen ergeben, die es zu benennen gilt, werde ich den Begriff situativ verwenden, ihn aber nicht unreflektiert reproduzieren. Die von Mattes genutzten Anführungszeichen übernehme ich, um darauf hinweisen, dass es sich um eine unkorrekte Bezeichnung mit rassistischen Implikationen handelt  (vgl. Mattes 2005: 16).

[3] Ich verwende Pseudonyme, die sich meine Interviewpartnerinnen selbst aussuchten und die für sie symbolische und emotionale Bedeutung haben.

[4] Im Vergleich dazu liegt die Durchschnittsrente für abhängig Beschäftigte in den alten Bundesländern für Frauen bei 737 Euro und für Männer 1.212 Euro  monatlich (vgl. Deutsche Rentenversicherung 2022).

[5] 1969 betrug das durchschnittliche Bruttgehalt für in Vollzeit beschäftigte Arbeitnehmer*innen 987 D-Mark und 1971 1244 D-Mark (vgl. Statista 2022).

[6] Jeder Person standen durchschnittlich vier Quadratmeter zur Verfügung.

[7] Dies, um Zusammenhänge zwischen historischer, struktureller, institutioneller und interpersoneller Diskriminierung sowie subjektivem Handeln und Empfinden herausarbeiten zu können (vgl. Roig, Uenal 2019).

Literatur

Castro Varela, Maria do Mar (2008): Was heißt hier Integration. Integrationsdiskurse und Integrationsregime. In: Landeshauptstadt München, Sozialreferat, Stelle für interkulturelle Arbeit (Hg.): Fachtagung Alle anders – alle gleich. Was heißt hier Identität. Was heißt hier Integration. Unter: https://www.muenchen.info/soz/pub/pdf/266_alle_anders.pdf (abgerufen am 03.01.2022)

Deutsche Rentenversicherung (2022): Rentenversicherung in Zahlen 2022. Durchschnittlicher Rentenzahlbetrag für Renten wegen Alters. Unter https://www.deutsche-rentenversicherung.de/SharedDocs/Downloads/DE/Statistiken-und-Berichte/statistikpublikationen/rv_in_zahlen.pdf  (22.12.2022).

Haraway, Donna J. (1995). Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive. In Haraway, Donna J. (Hrsg.) (1995): Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. Frankfurt / Main. S. 73–97.

Höhne, Jutta / Linden, Benedikt / Seils, Eric / Wiebel, Anne (2014): Die Lage der Gastarbeiter. Geschichte und aktuelle soziale Lage. WSI Report der Heinz Böckler Stiftung vom 16. September 2014. Düsseldorf. Unter: https://www.boeckler.de/pdf/p_wsi_report_16_2014.pdf (abgerufen am 18.11.21).

Küsters, Ivonne (2009): Narrative Interviews. Grundlagen und Anwendungen. Wiesbaden.

Mattes, Monika (2005): „Gastarbeiterinnen“ in der Bundesrepublik. In: Geschichte und Geschlechter, Band Nr. 48. Frankfurt/Main.

Mattes, Monika (2019): Gastarbeiterinnen in der Bundesrepublik Deutschland. Erschienen in: Kurzdossier Frauen in der Migration. Artikel vom 8.4.2010. Unter: https://www.bpb.de/gesellschaft/migration/kurzdossiers/289051/gastarbeiterinnen-in-der-bundesrepublik-deutschland (abgerufen am 19.11.21).

Motte, Jan & Ohliger, Rainer (2010): Im Rückblick: 50. Jahrestag der Anwerbeabkommen mit Spanien und Griechenland. Artikel vom 1.3.2010. Unter: https://www.bpb.de/gesellschaft/migration/newsletter/57056/im-rueckblick-50-jahrestag-der-anwerbeabkommen-mit-spanien-und-griechenland (abgerufen am 19.11.21).

Roig, Emilia / Uenal, Fatih (2019): Intersektionalität in Deutschland. Chancen Lücken und Herausforderungen. Berlin.

Rosenthal, Gabriele (2014). Biographieforschung. In: Baur, Nina / Blasius, Jörg (2014): Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung. Wiesbaden. S. 509 - 520.

Schütze, Fritz (1983): Biographieforschung und narratives Interview. Unter: https://www.ssoar.info/ssoar/handle/document/5314 (abgerufen am 11.01.2022)

Schütze, Fritz (1984): Kognitive Figuren des autobiographischen Stegreiferzählens. In: Kohli, Martin / Robert, Günther (Hg.): Biographie und soziale Wirklichkeit. Neue Beiträge und Forschungsperspektiven. Stuttgart.

Siouti, Irini (2013): Transnationale Biographien. Eine biographieanalytische Studie über Transmigrationsprozesse bei der Nachfolgegeneration griechischer Arbeitsmigranten. Berlin.

Statista (2022): Durchschnittliches Bruttoarbeitseinkommen der vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmer in der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1949 - 1989. Unter: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1100243/umfrage/durchschnittseinkommen-brd/ (22.12.2022).

Stoikou, Eleana (2021): Die Arbeitsmigration der 1960er und -70er Jahre im Spiegel griechischer Künstler in der Bundesrepublik Deutschland. In: Kyrtsis, Alexandros-Andreas / Pechlivanos, Miltos (Hg.)(2021): Compendium der griechisch-deutschen Verflechtungen.
Unter: https://comdeg.eu/compendium/essay/104593/ (abgerufen am 14.10.2021).

Utlu, Deniz (2021): Migrationshintergrund. Ein metaphernkritischer Komentar. In: Arndt, Susan / Ofuatey-Alazard, Nadja (Hg.)(2014): Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutscher Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk. 4. Auflage Münster.

Ventoura, Lina (2006): Ομοσπονδιακή Γερμανία [Bundesrepublik Deutschland]. In: Chasiotis et al. (Hg.) (2006): Οι Έλληνες στη Διασπορά. 15ος–21ος αι. [Die Griechen in der Diaspora]. Athen. S. 136 - 146.

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